Allan Sekula
Aerospace Folktales, 1973
Foto-Audio-Installation
51 Schwarz-weiß-Fotografien, Barytpapier (Abzüge 1984),
48 Fotografien à 14,8 x 22,4 cm und 3 Fotografien
à 22,4 x 14,8 cm, großteils paarweise in 23 Rahmen,
gerahmt à 55,9 x 71,5 cm
3 rote Regiestühle, 6 Fächerpalmen,
3 simultane, nicht synchronisierte Tonaufnahmen,
Gesamtdauer 17 min, 21 min und 23 min
Auflage 1/2
Vorbemerkung
(Textauszüge aus Photography Against the Grain, 1984)
In der Originalfassung glich Aerospace Folktales ein wenig einem in
seine Einzelteile zerlegten Film. Die Arbeit setzte sich aus drei separaten
Erzählelementen zusammen: aus Bildern, einem gesprochenen
“Soundtrack” und einem geschriebenen Kommentar. Die Bilder
bestanden aus 142 in narrativen Untersequenzen gruppierten fotografischen
Abzügen und Titeln. Der “Soundtrack” bestand aus vier
vom Polemischen bis zum Anekdotischen reichenden Gesprächen.
Er war fünfundsiebzig Minuten lang und lief ständig in einem kleinen
Raum, der an den größeren Ausstellungsraum angrenzte. Ein andermal
wurde das Band hinter einer großen Topfpflanze abgespielt.
Der geschriebene Kommentar wurde am Ende der fotografischen
Sequenz ausgestellt und zeigte, wie der Künstler selbst in die Arbeit
einbezogen war.
Die letzte Version entwickelte sich aus informellen Präsentationen
der Arbeit mit zwei Diaprojektoren. Der allgemeine Erzählfluss des
Originals wurde beibehalten, einzelne Sequenzen allerdings beträchtlich
gekürzt. (AS)
Interview mit dem Ingenieur
[...] Die vielleicht größte Schwierigkeit, die ich vorgefunden habe,
ist die, Leute zu treffen, die etwas über Stellen wissen könnten, für
die man geeignet wäre. Häufig wird man von Rezeptionisten, Büro-
angestellten, Sekretärinnen und so weiter abgewimmelt, besonders
wenn man sich an ein Großunternehmen, eine Firmenniederlassung
oder eine Regierungsagentur wendet. Briefe zu schreiben ist auch
nicht so wirksam, weil sich meist niemand die Zeit nimmt, das
Potential, das einer mitbringt, genau zu prüfen und zu evaluieren.
Die lesen vielleicht ein, zwei Sätze, und schon gelangen sie zu dem
Schluss, “das ist nicht die Person, die wir suchen”, und werfen den
Brief weg oder legen ihn in einem Ordner ab. [...]
Bei einem Menschen, der arbeitslos ist, kommt es zu einer Demoralisierung.
Am Anfang ist er vielleicht zuversichtlich, dass er etwas kann,
das einen potentiellen Arbeitgeber beeindrucken wird. Aber mit der Zeit,
wenn er eine Ablehnung nach der anderen erlebt, steigen Zweifel in
ihm auf, und diese Zweifel schlagen dann, so könnte man sagen, in
Mutlosigkeit um. Man bemüht sich einfach nicht mehr, weiter nach einer
Arbeit zu suchen. Es ist reine Zeitverschwendung. Und man braucht
sozusagen ein ungeheures Durchhaltevermögen, oder sagen wir, ein
gutes Verdauungssystem [...]
Was mir am meisten Sorgen macht, ist der Umstand, dass wir nicht
mehr genug Wert auf die technologische Vormachtstellung legen, wir
ignorieren die Notwendigkeit von Forschung und Entwicklung, wir
wursteln uns mit dem ein paar Jahre lang entwickelten Know-how
durch; aber es wird nicht lange dauern, bis uns das Wissen ausgeht.
Die ausländische Konkurrenz fordert uns ständig heraus, und es ist
nur eine Frage der Zeit, bis diese Konkurrenten vielleicht unsere technologische
Überlegenheit einbremsen. Viele davon borgen sich unser
industrielles Know-how, um in wenigen Jahren aufzuholen, wofür wir
Jahrzehnte gebraucht haben.
Die Industrie, so scheint es, interessiert sich nur für Aktivitäten,
die Profit abwerfen. Heute ist alles, was auf Information abzielt und
nichts Greifbares hervorbringt, in der Industrie verpönt. Von
Forschung wollen die nichts hören. Sie interessieren sich für die
Produktion um der Produktion willen: “Wie viel? Wie viel Dollar wird
das bringen?” Das kann, wirtschaftlich gesehen, fatal sein. Unsere
militärische Vormachtstellung, unsere wirtschaftliche Überlegenheit,
ja sogar unsere emotionale Stabilität könnte durch diese Philosophie
ernsthaft in Gefahr geraten. [...]
Interview mit der Ingenieursgattin
[...] Nun ja, er hat seine Phasen, in denen er bedrückt und missmutig
ist, aber nicht so sehr, wie er es gewesen wäre, hätte er es nicht
erwartet. Er ahnte es, sah es kommen, fühlte, dass uns diese
Entlassung ins Haus stand: Er fühlte es, ich weiß nicht, wie er es
wusste, aber er war nicht überrascht. Ich glaube, er war ein wenig
verzagt, weil er zum ersten Mal in seinem Leben, nun ja, er hat sich
immer gut verkaufen können. Er hat immer, wenn er ein Einstellungsgespräch
hatte und mit jemandem ins Gespräch kam, einen
guten Eindruck zu hinterlassen vermocht, konnte die Person überzeugen,
dass er etwas macht. Dann aber bekam er es mit
diesem Aussieben, diesem Beiseiteschieben der Leute zu tun.
Es gibt diese Haltung, dass wenn ein Mann seine Arbeit verliert,
etwas nicht mit ihm stimmt. ... Die übliche Reaktion war: “Du bist einfach
zu stolz, etwas anzunehmen, du stellst zu hohe Ansprüche; ich
an deiner Stelle stünde nicht ohne Geld da, ich würde den erstbesten
Job nehmen, der sich bietet.” Wir haben das immer wieder gehört:
“Du verkaufst deine Dienste zu teuer. Du musst nachgeben, dich
beugen.” [...]
Es war nur eine kurze Zeit, während des Wettlaufs zum Mond –
als man Raketen baute, als man die Saturn da hochbringen wollte –
da hat die Industrie angefangen, Männer fürs Denken zu bezahlen. [...]
Ich bin natürlich mit Rangordnungen aufgewachsen. Ich lebte
in einer Eisenbahnerstadt, und bei der Eisenbahn gab es eine klare
Diensthierarchie. Die Position, die man hatte, beruhte auf dem
Dienstalter. Und wenn es Entlassungen gab, und die gab es recht
häufig, denn es war eine Saisonarbeit, – wenn die Seen zufroren, fuhren
die Züge nicht mehr, oder jedenfalls nur ganz wenige, verglichen mit
dem dichten Verkehr der Sommer- und Frühjahrssaison – dann wurde
eine bestimmte Anzahl von Eisenbahnern während des Winters
entlassen, die irgendwie überleben mussten, denn es gab damals
keine Sozialhilfe, keine Fürsorge, keine Arbeitslosenunterstützung.
Das war einer der Gründe, weshalb die Leute kleine Farmen
hatten, die sie über die Runden brachten. Die Farmen waren nicht
besonders produktiv, aber wenigstens gab es Milch, Gemüse, Dinge,
von denen sie leben konnten. Einige hatten kleine Geschäfte, die ihre
Frauen führten, einen kleinen Lebensmittelladen etwa. Es gab immer
irgendeine Zusatzbeschäftigung zum Geldverdienen während der
Arbeitslosigkeit. Ich erinnere mich, wie sie immer sagten: “Ich wurde
abgekoppelt” – Eisenbahnerjargon dafür, dass, wenn es zur
Entlassung kam, jemand mit mehr Dienstjahren deinen Job übernahm
und du entweder den Mann unter dir abkoppeln oder gleich selbst
den Hut nehmen musstest. Ich glaube, die Analogie kommt vom
Rangieren. So wie man einen Wagon abkoppelt, so war man selbst
derjenige, der am Ende des Zuges abgekoppelt wurde. […]
Ein Kommentar
[…] mein vater baute ein bürgerliches u-boot weil er in einem arbeitermeer
schwamm und nicht wollte dass die haie seine kinder fressen
ich habe immer wieder dieses gefühl gehabt wenn ich mit meiner
kamera dorthin zurückkehrte die wohnung war ein u-boot sie lag
unter wasser sie war eine höhle mit konischen lampen in jedem winkel
wir saßen mitten in der maginotlinie fest wir hatten eine luftwaffe die
uns schützte ein dutzend kampfflugzeuge aus plastik er hatte uns
sogar ermutigt die modelle zu bauen als luftfahrtingenieur hatte er
natürlich eine gewisse vorliebe für flugzeuge als kind wollte er immer
pilot werden aber zu plastikflugzeugen wurden wir immer stärker
ermutigt als zu plastikrennautos die modelle waren totems irgendeiner
verrückten hierarchie nach der ingenieure über mechanikern standen […]
und so hatte alles seinen platz alles seine ordnung ich meine es
war einfach seine einzige verteidigungsmöglichkeit los angeles war irrsinn
es war anarchie ein krebs er glaubte das wirklich und musste
irgendwo eine stellung beziehen wenn er also seine kinder anwies den
wohnzimmerteppich zu bürsten und die lampen auszurichten war es wie
seine vision einer armee von ghettokindern die dazu eingesetzt werden
watts aufzuräumen es war als würde er durch east la marschieren und
das barrio durch eine architektenvision von suburbanen hochsicherheitsmalls
ersetzen es war eine polizeikontrolle und er war mitten drin […]
das krisenbild meines vaters ist ahistorisch er kämpft in der gegenwart
er spekuliert nicht vergleicht nicht vergangene und gegenwärtige
zustände würde er vergangene und gegenwärtige zustände vergleichen
würde er sich fragen wie weit er nach oben gekommen ist müsste er
sich einen gewissen rückschlag eingestehen schließlich hat er es nach
zweieinhalb jahren arbeitslosigkeit gerade geschafft denselben job als
chemischer verfahrenstechniker für die air force zu ergattern den er
schon vor sechzehn jahren hatte [...]
nun meine mutter sieht die welt ganz anders zumindest hält sie keine
reden wenn sie auf ein tonband spricht sie erzählt anekdoten sie
bricht fragmente aus der geschichte heraus um einen kontext für gegenwärtige
situationen zu schaffen ich frage mich warum sie in der lage
ist historischer zu denken als mein vater ich frage mich ob ihre existenz
in einer gewissen distanz zum managementgeprägten bild des
besser gestellten technikers ob ihre unterstützerrolle ihre unbezahlte
arbeit die das management vierzig stunden die woche mit wohlgenährter
wohlversorgter arbeitskraft beliefert ihr großziehen künftiger besser
gestellter techniker die geschichte bei ihr irgendwie intakt hielt ...
also habe ich ein paar sachen aufgeschrieben damit sie verstehen
wovon ich spreche damit sie nicht glauben ich dokumentiere die dinge
einfach um des dokumentierens willen ganz offensichtlich bin ich
nicht national geographic auf der suche nach heimischen bräuchen oder
alligatoren ich versuche nicht mich selbst zu entdecken ich versuche
nicht ihnen eine aufzeichnung meiner schmerzlichen ermittlungen
vorzulegen dieses material ist nur insofern interessant als es soziales
material ist ich glaube nicht dass ich ihnen ein objekt bieten kann
das zu ihrer welt nur in einem künstlerischen bezug steht …
(Allan Sekula)
GF0030028.00.0-2003
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